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Es war der 3. Mai 1992, als die Geisel befreit werden sollte – im Austausch zu jugoslawischen Soldaten, die in ihrer Kaserne in Sarajewo stationiert, aber von bosnischen Truppen eingekesselten waren. Die Geisel, das war der tags zuvor von Serben am Sarajewoer Flughafen gekidnappte bosnische Kriegspräsident Alija Izetbegovic. Der deal lautete: Im Gegenzug freier Abzug der jugoslawischen Soldaten samt ihrer Kriegsausrüstung, ihren Panzern und der Technik aus Sarajewo. Beides sollte zeitgleich erfolgen. Die ersten Kolonnen hatten bereits die Dobrovoljacka Straße passiert, Izetbegovic war in Sicherheit, als auf bosnischer Seite der Befehl „schießen“ ertönte.
Was danach folgte war nach serbischer Schilderung ein Massaker, bei welchem Belgrad zunächst von mehreren Hundert toten jugoslawischen – überwiegend serbischen – Soldaten sprach, diese Zahl jedoch mittlerweile auf 40-50 reduzierte. Auf bosnischer Seite beziffert man die Zahl der Toten mit weniger als 10. Insgesamt konfiszierte die bosnische Armee 16 Panzer des Kriegsgegners. Doch bis heute ist unklar, wer den Schießbefehl tatsächlich gab.
Vergangenes Jahr war in London der bosnische Politiker Ejup Ganic aufgrund eines von Belgrad ausgestellten Haftbefehls festgenommen worden. Er habe das Blutbad in der Dobrovoljacka Straße angeordnet, behauptete Serbien. Wenige Wochen später kam er frei. Es habe sich wohl eher um eine politisch motivierte Anklage gehandelt, konstatierten britische Richter. Serbiens Reaktion: Man stockte die „Liste der Verdächtigen“ auf fast 20 Personen auf – zumal die Internationale Gemeinschaft offenbar willig die Haftbefehle vollstreckt. Am 3. März wurde der serbische General Jovan Divjak, der bis zum Ende des Bosnienkriegs als aktiver General der bosnischen Armee Sarajewo verteidigt hatte, auf dem Wiener Flughafen festgenommen. Daß das Internationale Kriegstribunal in Den Haag lange vorab festgestellt hatte, daß es keine Beweise für Divjaks Schuld in der „Affaire Dobrovoljacka Straße“ gebe, störte die österreichische Justiz dabei nicht.
Die angekündigte Freilassung des 74-jährigen gegen eine von der bosnischen Regierung gestellte Kaution von 500 000 Euro und die Auflage, Österreich bis zur Klärung des Falls nicht zu verlassen, schönt die blamable Situation kaum.
Divjak ist immer noch ein Krebsgeschwür im Selbstverständnis serbischer Politik, ein Judas – der als Serbe seine Landsleute verriet, indem er für die Einheit Bosniens in den Reihen der bosnischen Armee unter Leitung des Muslimen Alija Izetbegovic kämpfte.
Auch das heutige Serbien will sich, trotz verbaler Beteuerungen proeuropäischer Gesinnung und Distanzierung von der Kriegspolitik Milosevics, immer noch nicht als Initiator der Balkankriege in den 90-er Jahren sehen. Daß man sich „nur verteidigte“, soll in Beispielen wie der Tragödie der Dobrovoljacka Straße der eigenen Bevölkerung wie der internationalen Gemeinschaft immer wieder vor Augen geführt werden. In die Ideologie der Opferrolle, eines von allen Nachbarnationen bedrohten Serbentums, paßt deshalb kein General wie Jovan Divjak. Daß dieser selbst in der serbischen Teilrepublik Bosniens, der Republik Srpska, bis heute als Kriegsverbrecher verfolgt wird, verwundert da kaum.
Das Schicksal des Jovan Divjak ist nicht nur ein Einzelschicksal, es ist auch ein Spiegelbild des zerrissenen Bosnien – jener Fata Morgana westlicher Politik, die jahrelang nach dem Krieg mit Erfolgen prahlte, die es nie gab. Statt die bosnischen Politiker zum Aufbau eines demokratischen Staates zu zwingen, wurden Milliarden von Aufbauhilfen verpulvert und die Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft immer macht- und hilfloser. Unsere Politiker haben ihren Haß auf die Bevölkerung übertragen, die Situation ist schlimmer als während des Kriegs sagt nicht nur Divjak. Auf die Frage, warum in Sarajewo kaum noch Serben leben, antwortet er ohne zu zögern: ..weil sie in Sarajewo nicht mehr leben können.
Daß auch sein Kampf um den Erhalt eines multiethnischen, von Muslimen, Serben und Kroaten gleichberechtigt bevölkerten bosnischen Staates oft zum Alptraum wurde, darüber wissen nur wenige Bescheid.
Gewiß, der Westen enttäuschte, indem er ins Todeslager auf dem Balkan mehr als Schaulustiger denn als Helfer blickte. Die islamische Weltgemeinschaft konnte selbst mit der Entsendung radikaler Mudschahedine zur Verstärkung der bosnischen Armee und Waffenlieferungen mit stillschweigender US-Billigung die serbische Militärübermacht kaum wirklich schwächen. Und daß die in Bosnien lebenden Kroaten über Nacht vom Freund zum Kriegsgegner wurden, auch dies konnte den Enthusiasmus des Serbengenerals bei der Wiederherstellung eines multiethnischen Bosnien nicht stoppen.
Viel schlimmer wog das Mißtrauen, das ihm bald in der bosnischen Armee entgegenschlug – auch von Bosniens Kriegspräsident Alija Izetbegovic. Immer wieder wurde Divjak in den Medien mit seiner ironischen Aussage „ich bin Izetbegovics Ikebana“ zitiert. Wenn ausländische Delegationen oder Politiker eintrafen, wurde er als „serbischer General“ vorgeführt, um den Kampf Sarajewos um einen multiethnischen Staat zu untermauern. Doch bei strategischen Lagebesprechungen zwischen der bosnischen Führung und deren Militärs war der serbische General nur selten anwesend. Man mißtraute mir, gesteht er offen: „Für diejenigen hinter den Bergen (Karadzics Serben die Sarajewo 3 1/2 Jahre belagerten) war ich ein Verräter – in Sarajewo zweifelten sie ebenfalls an meiner Loyalität.
Wie tief der Argwohn bei den bosnisch-muslimischen Generälen bereits in den ersten Kriegsmonaten saß belegt der jetzt aufgerollte Fall der Dobrovoljacka-Straße, die nun zu Divjaks Verhaftung führte. Ich rief „nicht schießen“, erinnert sich dieser, ..“da brüllte einer aus der bosnischen Armee in seinen walky-talky: Jagt Divjak zum Teufel, er hat sein eigenes Volk verraten – er wird auch uns verraten.“
Ich weiß, sagt Divjak, wer diese Person war. Zudem gäbe es zahlreiche Augenzeugen, die eindeutig bestätigen könnten, daß er klar „nicht schießen“ rief.
Als sich kurz nach Kriegsbeginn Gerüchte verstärkten, daß in Sarajewo etwa 300 Serben von angeheuerten Kriminellen getötet wurden, forderte Divjak Präsident Izetbegovic schockiert zur Klärung auf. Die Antwort konnte ihn kaum überzeugen. Auch die bosnische Armee hatte 2 Brigaden mit Kriminellen, ähnlich wie die Serben ihre mordenden und plündernden Freischärler.
1993 folgte der nächste Schock. Jetzt schien selbst Bosniens Kriegspräsident Izetbegovic die Idee eines multiethnischen Bosnien aufzugeben und war bereit, einem Moslem-Staat auf dem Balkan zuzustimmen. Izetbegovic habe sich trotz der sichtbaren Überforderung überall eingemischt, doch er sei nicht fähig gewesen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, lautete Divjaks Fazit. Auch die Achillesferse des heutigen Bosnien, nämlich die nahezu unabhängig innerhalb des bosnischen Staates funktionierende „Republik Srpska“ in welcher die Serben nahezu autonom herrschen, sei keineswegs bei den Friedensgesprächen von Dayton nach mühsamen Verhandlungen beschlossen worden. Deren Anerkennung, sagt Divjak, sei lange vorher zwischen bosnischen und serbischen Politikern bei einem Trefffen in der Schweiz erfolgt.
Während Divjaks Frau in tiefste Depressionen verfiel, mußte der General nach Kriegsende eine weitere Demütigung einstecken. Er erfuhr durch die Medien von seiner Entlassung aus der Armee. Wütend und enttäuscht gab er als Antwort seinen Generalstitel zurück. Wie tief die Wunde saß, die Izetbegovics mangelndes Vertrauen bei ihm hinterlassen hatte, läßt jene Geschichte erkennen, die er mit glänzenden Augen erzählt und die ihn letztendlich doch Frieden mit Alija Izetbegovic schließen ließ :
„Zwei Wochen vor Izetbeogics Tod im Jahr 2003 überlegte ich mir, ob ich ihn noch im Krankenhaus besuchen soll. Izetbegovic hatte bis dahin den Besuch zahlreicher Politiker abgelehnt. Plötzlich rief mich der Direktor des Krankenhauses an und sagte: Izetbegovic will dich sehen. Es war genau 10 Minuten vor 11 Uhr als ich ankam. Vor der Türe wartete ein Journalist der Zeitung Oslobodjenje – für mich ein Zeichen, daß Alija wollte, daß bekannt wird, daß er mich empfängt.
Wir scherzten etwas und ich hatte mich bereits verabschiedet, als er plötzlich sagte: Du hast mir mit deinem Besuch eine große Ehre erwiesen.
Vielleicht hatte der Mann, den im Krieg so viele internationale Freunde im Stich gelassen hatten, am Ende seines Lebens erkannt, daß der Serbe ein wahrer Freund war.
Jovan Divjak blieb in Sarajewo und ist heute vielleicht eines der wenigen Symbole für eine immer noch im Bewußtsein der Bevölkerung lebende Erinnerung an das friedliche Zusammenleben von Serben, Kroaten und Muslimen. Niemand, der „Onkel Jovo“ in Sarajewo nicht kennt. Schulterklopfen auf den Straßen, Händeschütteln mit wildfremden Menschen. So, als schütze ihn eine unsichtbare Aura vom sonst allgegenwärtigen nationalen Haßkonzept. Man hat seinen Mut nicht vergessen, daß er gegen die Kriegspropaganda und warlords des eigenen Volkes kämpfte und deshalb heute in seiner Heimat geächtet ist. Daß ihn die meisten bosnischen Generale im Gegensatz zur eigenen Bevölkerung ignorieren, trübt das Glücksgefühl kaum. Die können mir nicht in die Augen sehen, sind eifersüchtig, weil ich im Herzen der Menschen einen Platz gefunden habe, resümmiert er ohne falsche Bescheidenheit und fügt leicht spöttisch an: Heute bin ich nicht mehr Ikebana sondern Ikone.
Sein Leben sind heute nicht mehr Kampfanzüge und Panzer sondern die Kinder. Selbst in einer zerrütteten Familie aufgewachsen, gründete er nach Ende des Bosnienkriegs einen Verein zur Hilfe kriegsgeschädigter oder sozial bedürftiger Kinder. Für sie kämpft er um Stipendien, um kostenlose Urlaubsreisen, um Fortbildungsmöglichkeiten. Über 30 000 Stipendien konnte er bisher organisieren – bei der Stadt Sarajewo ebenso wie bei ausländischen Hilfsorganisationen.
Die Menschen, sagt er stolz, haben Vertrauen zu mir. Das ist eine wunderbare Zeit. Zwar ist ein gemeinsames Bosnien heute kaum möglich, doch ich bereue es nicht, dafür gekämpft zu haben.
Am Ende sollte man noch ein bislang unbekanntes Detail erwähnen: 2006 reiste Divjak – trotz anhaltender Morddrohungen aus Serbien – „incognito“ nach Belgrad. Er war zur Premiere eines Films geladen worden, welcher das Überleben in Sarajewo schilderte. Die serbische Regierung hatte ihm vorab Sicherheit und Schutz bei seinem Aufenthalt garantiert und dieses Versprechen auch eingehalten. 14 Jahre waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit den Schüssen in der Dobrovoljacka Straße vergangen. Jetzt überließ man es Wien, ihn deshalb zu verhaften und seine „Auslieferung“ zu fordern.